Die Arme rings im Kreise

Ausstellung von Lisa Meixner

neocon Central/Frankfurt am Main
13. - 15.02.2009



Zu Lisa Meixners die Arme rings im Kreise

Ich sehe einen aus Ton geformten Baumstamm mit tief liegenden Augen, einer knubbeligen Nase und großen Ohren, die auch Aststümpfe sein könnten. Das Baumstammgesicht liegt auf einem Badetuch. Dazwischen befindet sich der Ausdruck einer Farbfotografie, die vermutlich aus dem Internet stammt. Ein rauschender Wasserfall stürzt am Rande einer grasgrünen Landschaft eine Felskante hinab, die Gischt steigt wie eine riesige weiße Wolke zum bedeckten Himmel empor.
Ein Junge blickt in die Ferne, in seiner rechten Hand hält er einen Ast, den er als Wanderstock verwendet. Mir scheint er ist im Aufbruch, hält Ausschau nach einem Abenteuer, träumt sich auf das unbekannte Eiland. Im Moment jedoch steht er neben einem Lehm-Iglu, im Hintergrund ist die Fotografie einer Lampe auf einer Kommode zu erkennen. Davor steht, aus Ton modelliert, eine Rose in einer Vase. Neben dran stapft ein kleines Mädchen im rosa Wintermantel und gelben Stiefeln durch eine weiße Fläche, die zugleich Tischdecke und Schneelandschaft ist. Jetzt erscheint der Junge, der wie das jüngere Kind aus einem Foto ausgeschnitten ist, für die winterlichen Temperaturen zu leicht bekleidet. Diese kleinen Widersprüche zeigen, dass Lisa Meixners Assemblagen und Inszenierungen in kleinen Papierbetonkästen nicht die eine Geschichte erzählen, sondern ihr Grundthema in diversen Ausprägungen darstellen.
Jedes Kind weiß, dass ein Käfer ebenso ein Auto wie ein kleines Tier mit sechs Beinen ist, der fährt oder krabbelt und manchmal auch fliegt – wie Dudu das verrückteste Auto der Welt. Die Erklärung dafür ist, dass Worte nicht nur eine Bedeutung haben sondern mehrere, und deshalb müsste der Satz auch korrekt lauten: der Terminus Käfer bezeichnet sowohl ein Tier aus der Klasse der Insekten als auch das Automodell VW Käfer der heutigen Volkswagen AG.
Was ich beschreibe, das sehe, erinnere und denke ich, wenn ich die zum Teil nur 12 x 16 x 7 Zentimeter kleinen Betonkästen betrachte – mit den Titeln Tholoserweiterung I (Der fliegende Robert), Tholoserweiterung II (Gregor), Tholoserweiterung III. Was ist der oder die Tholos? Mit Wikipedia finde ich heraus: Es heißt die Tholos und kommt aus dem Griechischen und bezeichnet in der griechisch-römischen Antike zunächst einen sakralen Rundbau mit und ohne umgebender Säulenstellung. Später wird der Begriff auf jeden Rundbau und insbesondere das runde Dach ausgedehnt. Des Weiteren finde ich Abbildungen vom Löwentholos in Mykene, einem Tholos in Delphi und von so genannten Bienenkorbhäusern aus Lehm in Syrien und der Türkei, die, wie ich jetzt feststelle, haar genauso aussehen, wie das zuvor als Lehm-Iglu identifizierte Objekt in Tholoserweiterung III.
Die Frage was ein Lehm-Iglu mit einer Tholos zutun hat, hätte ich damit geklärt. Aber was mache ich mit der Schildkröte auf dem Badetuch unterm Sonnenschirm? Die Verbindung Tholos und Schildkröte im Badeurlaub erschließt sich mir noch nicht. Eine Vermutung drängt sich auf: die Arbeit von Lisa Meixner erzählt nicht in all ihren Facetten die historische Entwicklung des Rundbaus von der Eisenzeit bis in die Gegenwart. Vielmehr gelange ich zu der Frage: was ist ein Rundbau? Ein Rundbau, ist ein rundes Gebäude oder vereinfacht gesagt, ein rundes Haus. Wer hat Häuser? Meine Eltern haben ein Haus, das ist allerdings eckig. Eine Schnecke hat ein Haus, das ist wiederum rund. Eine Schildkröte hat einen Panzer der mehr oder weniger rund ist. Was tut der Panzer ebenso wie das Schneckenhaus? Er beschützt die Schildkröte vor ihren Fressfeinden und der Sonnenschirm schützt sie vor der Sonne und der VW Käfer war das beliebteste Auto der Deutschen um in der Wirtschaftswunderzeit in den Urlaub nach Italien zu fahren und so schließt sich der Kreis.
Dennoch übersehe ich etwas, wenn ich, beim Betrachten des Jungen und seinem Lehm- Iglu, an meine Kindheit denke und mich erinnere, wie mein Bruder und ich im Winter Schneehöhlen graben und im Sommer Baumhäuser bauen, wie ich mit einem Stock in der Hand den Arnsberger Wald durchstreife und mit meinem besten Freund einen kleinen Bach aufstaue, bis sich das Wasser über den Damm aus Ästen und Steinen und Erdmatsch ergießt.
Es ist die kleine Schwarzweißfotografie eines von Geschossen durchlöcherten Stahlhelms auf dem Grab eins toten Soldaten, die mir ins Gedächtnis ruft, dass Panzer und Fallschirme auch Kriegsgerät sind.
Eine andere Fotografie, die in die rechte obere Ecke der Assemblage Kreneerweiterung I geklebt ist und ebenfalls während des Zweiten Weltkriegs aufgenommen worden ist, zeigt einen mit Bäumen bewachsenen Platz, der von einfachen Häusern umgeben ist. Auf der freien Fläche steht ein Brunnen, aus dessen steinernen Bassin eine russische Bäuerin mit einem Becher Wasser in einen Eimer schöpft. Ein kleiner Junge, der an einen der Bäume angelehnt steht, schaut augenscheinlich vom Anblick des Fotografen fasziniert in die Kamera.
Ein Tonklumpen mit sechs längeren Zahnstochern als Beinen und zwei Kürzeren als Augen oder Fühlern, mag in seiner Machart denen der Kastanienmännchen von Kindergartenkindern entsprechen, eine hinzugefügte Textstelle, die die Hilflosigkeit eines auf dem Rücken liegenden Käfers beschreibt, deutet an, dass auch Lisas Welt nicht frei von Sorgen ist.*
In ihren Kästen und Skulpturen verdichten sich die Artefakte und Zitate der Dichter des bürgerlichen Bildungskanons mit Fundstücken aus Werbung und Low Culture. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Recherche finden ihren Ausdruck im Märchen, in Knet- Lehmfiguren und Buntstiftzeichnungen. Lisa Meixner betreibt keine Kulturanthropologie im eigentlichen Sinne. Sie befragt die Worte und die Dinge, untersucht ihre verschiedenen Bedeutungen (Krene** = Quelle, Brunnen) und Ausprägungen (Sonnen-, Regen-, Fall- und Lampenschirm) und zeigt die Verbindungen (Bienenstockhaus und Schneckenhaus/Schildkrötenpanzer) zwischen ihnen auf. Sie fügt den Lach- und Sachgeschichten sowie den Enzyklopädien eigene Perspektiven hinzu.
Zum Schluss muss ich feststellen, dass der fliegende Robert ein unglücklicher Junge ist, der mit seinem Regenschirm vom Wind davongetragen wird, weil er bei Sturm nicht zu Hause bleiben will.*** Dabei habe ich gedacht, er wäre ein Karlsson vom Dach, der fliegen kann, immer macht was er will und damit auch durchkommt.
Somit stellt sich als letzte Frage, ob diejenige BetrachterIn, die schon weiß, was eine Tholos ist mehr von dieser künstlerischen Arbeit hat, als jemand wie ich, für den zunächst eine Schildkröte einfach Urlaub macht? Für mich bleibt sie offen. Die Offenheit an unterschiedlichen Stellen in die etymologischen und kulturanthropologischen Untersuchungen einzusteigen und den Erzählungen der Tonfiguren, Fotografien und Textfragmente zu folgen und in eigenen Assoziationen fortlaufen zu lassen, zeichnet diese künstlerischen Arbeiten aus.

_________________
* Die Textstelle stammt aus Kafkas Erzählung Die Verwandlung, in der Gregor Samsa, der Protagonist, eines Morgens, in einen Käfer verwandelt, aufwacht.
** Lisa Meixner: Krene (Um an die Quellen zu kommen), 2008, Fotografien, Prints, Texte, Skulptur (Eisen, Beton, Papierbeton, Spiegel) 27 x 81 x 50 cm, Arbeitsplatte (Spanplatte, Dispersionsfarbe, Ton, Papierbeton) 100 x 90 cm.
*** Lisa Meixner: Tholoserweiterung I (Der fliegende Robert), 2008, Papierbeton, Plexiglas, Tonmodelle, Fotografie, Text, 23 x 28 x 12 cm. Die Geschichte vom fliegenden Robert entstammt ursprünglich dem Kinderbuch der Struwwelpeter